Empfehlung: Stärkung des Vorsorgeprinzips
Vorsorgeprinzip bei Risikobewertung gentechnisch veränderter Organismen
Empfehlung: Stärkung des Vorsorgeprinzips bei der Risikobewertung gentechnisch veränderter Organismen in der EU durch Ausschlusskriterien
Ein Beitrag von Dr. Christoph Then
Das Vorsorgeprinzip, wie es in der EU-Richtlinie 2001/18 verankert ist, kann nur funktionieren, wenn in Fällen, in denen dies notwendig erscheint, auch tatsächlich effektive Maßnahmen zum Schutz der Umwelt und menschlichen Gesundheit ergriffen werden können. Die Rückholbarkeit (zeitliche und räumliche Kontrollierbarkeit) ist dafür eine entscheidende Voraussetzung.
„Die Mitgliedstaaten tragen im Einklang mit dem Vorsorgeprinzip dafür Sorge, dass alle geeigneten Maßnahmen getroffen werden, damit die absichtliche Freisetzung oder das Inverkehrbringen von GVO keine schädlichen Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit und die Umwelt hat“ (EU-Richtlinie 2001/18, Artikel 1). Sobald sich dabei Erkenntnisse für eine tatsächliche Gefährdung von Mensch und Umwelt ergeben, müssen Notfallmaßnahmen ergriffen werden: „Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass im Falle einer ernsten Gefahr Notfallmaßnahmen, beispielsweise die Aussetzung oder Beendigung des Inverkehrbringens, getroffen werden […]” (EU-Richtlinie 2001/18, Artikel 23). Hinzu kommt die Vorschrift aus Artikel 13 der Richtlinie, dass die Bewilligung der Marktzulassung nur für zehn Jahre erfolgen darf. Danach muss die Zulassung auf Basis eines Monitorings erneut überprüft werden. Verliert der gentechnisch veränderte Organismus seine Zulassung, muss er wieder aus der Umwelt entfernt werden.
Die Freisetzung oder Inverkehrbringung von gentechnisch veränderten Organismen, deren Ausbreitung nicht kontrolliert werden kann, stehen mit diesen Bestimmungen grundsätzlich in Konflikt. Kann ein GVO nicht mehr aus der Umwelt zurückgeholt werden, läuft das Vorsorgeprinzip faktisch ins Leere.
Das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) finanzierte Projekt GeneTip[1] beschäftigte sich in diesem Kontext als erstes Forschungsprojekt in Deutschland mit der prospektiven Technologiebewertung von Gene Drive Organismen. Ein Ergebnis des Projektes ist die Empfehlung, einen neuen zentralen Mechanismus für die Risikobewertung von GVO einzuführen: die Benennung und Definition sogenannter Besorgnisgründe (vereinfacht gesagt, sachlich begründeten Risiken). Solche Besorgnisgründe sind häufig bereits zu einem frühen Stadium der Forschung und Entwicklung identifizierbar und könnten zu der Charakterisierung eines GVO als “besonders besorgniserregend” führen. Zu diesem Zweck schlagen die Autor*innen unter anderem folgende Kriterien für die Identifizierung von Besorgnisgründen vor:
- Unmöglichkeit der Erstellung von belastbaren Prognosen
- Eingriffe in Systeme, die für die menschliche Gesundheit besonders kritisch sind
- Eingriff in ökologische Systeme, die vorbelastet sind oder Kipp-Punkte aufweisen
- Mangelnde technische Ausgereiftheit und Verlässlichkeit
- Besonders große Reichweite, bis hin zur globalen und irreversiblen Ausbreitung von GVO
- Die Fähigkeit zur Ausbreitung in natürlichen Populationen
Eine Charakterisierung als besonders besorgniserregender GVO oder Konstrukt könnte nach dem Ergebnisbericht des GeneTip Projektes zu den gleichen Konsequenzen führen, wie das bei der EU-Chemikaliengesetzgebung REACH beziehungsweise der EU-Pestizidgesetzgebung bereits der Fall ist. Hier spielt die Abschätzung der räumlich-zeitlichen Komplexität bzw. Kontrollierbarkeit eine wichtige Rolle.
In der REACH-Verordnung heißt es: „Erfahrungen auf internationaler Ebene zeigen, dass Stoffe mit persistenten, bioakkumulierbaren und toxischen Eigenschaften oder mit sehr persistenten und sehr bioakkumulierbaren Eigenschaften besonders besorgniserregend sind.“[2] Deshalb wurden in REACH entsprechende Kriterien zur Definition von persistenten, bioakkumulativen und toxischen Stoffen sowie für besonders bioakkumulative und persistente Substanzen festgelegt.
Die EU-Verordnung zur Zulassung von Pestiziden[3] integriert diese Kriterien für POP (persistent organic pollutant), PBT (persistent, bioaccumulative, toxic) und vPvB (very persistent, very bioaccumulative) in den Entscheidungsprozess als Ausschlusskriterien, die dazu führen, dass eine Zulassung generell verweigert werden kann und der Zulassungsprozess nicht fortgeführt wird. Entscheidend ist nicht allein die Giftigkeit einer Substanz, sondern auch ihr Verhalten und Verbleib in der Umwelt. Wenn eine Substanz als vPvB eingestuft wird, kann sie nach dieser EU-Verordnung nicht zugelassen werden, auch wenn Langzeitschäden nicht nachgewiesen sind.
Nach dem Endbericht von GeneTip könnten solche Ausschlusskriterien (cut-off criteria) auch bei der Zulassung von GVO und Gene Drive Organismen hilfreich sein. Wenn sich gentechnisch veränderte Organismen der räumlich-zeitlichen Kontrollierbarkeit entziehen, weil sie sich in natürlichen Populationen vermehren können, ohne dass ihre Persistenz und Ausbreitung effektiv zu kontrollieren ist, wäre eine ausreichend verlässliche Risikobewertung nicht möglich. Der Zulassungsprozess kann nicht fortgeführt und eine Freisetzung der GVO nicht genehmigt werden.
Die Ergebnisse von GeneTip wurden seitens der Expertengruppe (AHTEG) zur Beratung der Vertragsstaatenkonferenz der UN Biodiversitätskonvention berücksichtigt. Unter anderem werden unvorhergesehene Effekte, die erst nach einigen Generationen auftreten, als spezifische Herausforderung für die Risikobewertung benannt.[4] Die Europäische Lebensmittelbehörde EFSA dagegen ignoriert diese Herausforderungen in ihrem im November 2020 vorgelegten Bericht weitgehend.
Dr. Christoph Then ist Leiter des Instituts für unabhängige Folgenabschätzung in der Biotechnologie (TestBiotech) und Mitautor des GeneTip Projekts. Testbiotech befasst sich mit der Folgenabschätzung im Bereich der Biotechnologie, fordert und fördert unabhängige Forschung, untersucht ethische als auch wirtschaftliche Folgen und prüft Risiken für Mensch und Umwelt. Testbiotech stellt industrie-unabhängige Expertise zur Verfügung und will so die Entscheidungskompetenz der Gesellschaft stärken.
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[1] 121 Gene Tip Website (ohne Jahr). Testbiotech e.V. Institut für unabhängige Folgenabschätzung in der Biotechnologie. BioTip-Pilotstudie: Genetische Innovationen als Auslöser von Phasenübergängen in der Populationsdynamik von Tieren und Pflanzen (GeneTip). Online: https://www.genetip.de/de/biotip-pilotstudie/ [letzter Zugriff: 07.12.2020]
[2] EUR-Lex Website (2006). Amt für Veröffentlichungen der Europäischen Union. Verordnung (EG) Nr 1907/2006 des europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Dezember 2006 zur Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung chemischer Stoffe (REACH), zur Schaffung einer Europäischen Agentur für chemische Stoffe, zur Änderung der Richtlinie 1999/45/EG und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 793/93 des Rates, der Verordnung (EG) Nr. 1488/94 der Kommission, der Richtlinie 76/769/EWG des Rates sowie der Richtlinien 91/155/EWG, 93/67/EWG, 93/105/EG und 2000/21/EG der Kommission. Online: https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32006R1907&from=EN [letzter Zugriff: 07.12.2020]
[3] EUR-Lex Website (2009). Amt für Veröffentlichungen der Europäischen Union. Verordnung (EG) Nr. 1107/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. Oktober 2009 über das Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln und zur Aufhebung der Richtlinien 79/117/EWG und 91/414/EWG des Rates. Online: https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=celex:32009R1107 [letzter Zugriff: 07.12.2020]
[4] Convention on Biological Diversity. Ad Hoc Technical Expert Group on Risk Assessment (2020). Report of the Ad Hoc Technical Expert Group on Risk Assessment. CBD/CP/RA/AHTEG/2020/1/5. 15. April 2020, Montreal, Canada. Online: https://www.cbd.int/doc/c/a763/e248/4fa326e03e3c126b9615e95d/cp-ra-ahteg-2020-01-05-en.pdf
IUCN: Die Diskussion um Gene Drives
Die Diskussion um Gene Drives in der Weltnaturschutzunion (IUCN)
Angesichts der Möglichkeit, eingeschleppte invasive Arten mittels Gene Drive aus empfindlichen Ökosystemen zu entfernen, diskutiert auch die International Union for Conservation of Nature (IUCN), auch Weltnaturschutzunion genannt, seit Ende 2015 über den Umgang mit dieser Technologie.
Bei ihrer Mitgliederversammlung im September 2016 auf Hawaii verabschiedete die IUCN eine Resolution¹, mit der sie sich unter anderem selbst den Auftrag erteilte, einen wissenschaftlichen Bericht zu den Auswirkungen der synthetischen Biologie und Gene Drives für den Schutz der Biodiversität zu erstellen. Auf Grundlage dieses wissenschaftlichen Berichts wollte die IUCN ursprünglich bei ihrer darauf folgenden Mitgliederversammlung im Jahr 2020 eine Position zur Rolle der Gene Drive Technologie für den Naturschutz beziehen.
Unter anderem durch öffentlichen Protest und auf Hinwirken von Koryphäen des weltweiten Natur- und Artenschutzes² verpflichtete sich die IUCN in ihrer Resolution aus dem Jahr 2016 darauf, bis zum Vorliegen dieses Berichts von jeglicher Unterstützung oder Befürwortung von Forschung, Feldversuchen oder Nutzung der Gene Drive Technologie abzusehen.
Der Bericht mit dem Titel Genetic frontiers for conservation³ wurde im Mai 2019 veröffentlicht und traf sowohl aufseiten von IUCN Mitgliedsorganisationen als auch aufseiten von Naturschutz- und Entwicklungsorganisationen aus aller Welt auf harsche Kritik.
Eine von der kanadischen Nichtregierungsorganisation ETC Group durchgeführte Analyse⁴ kam zu dem Schluss, dass eine Mehrzahl der Autor*innen des Berichts bekannte Befürworter*innen der Gentechnik seien und zum Teil aufgrund ihrer wirtschaftlichen Eigeninteressen an der Entwicklung der untersuchten Technologien nicht von der IUCN hätten engagiert werden dürfen. In einem daraufhin von 231 zivilgesellschaftlichen Organisationen und mehreren Wissenschaftler*innen unterzeichneten offenen Brief wurde der Bericht als „bedauerlicherweise einseitig“, „voreingenommen“ und „ungeeignet für die vorgesehene politische Diskussion“ kritisiert. Dieser Bericht stehe nicht im Einklang mit den Vorsorgeerwägungen der Resolution von Hawaii. Die unterzeichnenden Organisationen forderten die IUCN deshalb dazu auf, einen weiteren wissenschaftlichen Bericht auf Basis einer vorsorgeorientierten Analyse der Risiken der Technologie in Auftrag zu geben und mit einer Beschlussfassung zum Thema bis zum Vorliegen eines solchen Gegenberichts zu warten.⁵
In eine ähnliche Richtung ging die Forderung eines Briefes von 23 IUCN Mitgliedern vom Oktober 2019 an den IUCN Council. Es brauche mehr Zeit für eine grundlegende, umfassende, ausgewogene Diskussion auf Grundlage des Vorsorgeprinzips mit größerer Einbindung von IUCN Mitgliedern vor einer Beschlussfassung der IUCN.⁶
Konfrontiert mit dieser Kritik zog der IUCN Council seinen Plan zurück, bereits bei seinem ursprünglich im Juni 2020 geplanten Mitgliederprozess eine Position beschließen zu wollen. Stattdessen wurden in einer mitgliederoffenen Konsultation Prinzipien⁷ für die Diskussion rund um das Thema festgelegt. Diese sollen beim IUCN Weltnaturschutzkongress im Jahr 2021 abgestimmt werden und als Grundlage für eine Positionsfindung zum Thema bis zum darauffolgenden Mitgliederkongress dienen.
[1] IUCN Library System Website (2016). IUCN, International Union for Conservation of Nature Resolution; c2020. WCC-2016-Res-086 – Development of IUCN policy on biodiversity conservation and synthetic biology. World Conservation Congress; 2016; Hawaii. Online: https://portals.iucn.org/library/sites/library/files/resrecfiles/WCC_2016_RES_086_EN.pdf
[letzter Zugriff: 07.12.2020]
[2] SynBioWatch Website (2016). A Call for Conservation with a Conscience. No Place for Gene Drives in Conservation. Online:
http://www.synbiowatch.org/wp-content/uploads/2016/09/letter_vs_genedrives.pdf [letzter Zugriff: 07.12.2020]
[3] Redford KH, Brooks TM, Macfarlane NBW, Adams JS (2019). Genetic frontiers for conservation: an assessment of synthetic
biology and biodiversity conservation: technical assessment. IUCN Publication. Online: https://portals.iucn.org/library/node/48408
[letzter Zugriff: 07.12.2020]
[4] ETC Group Website (2019). ETC Group. Driving Under The Influence? A review of the evidence for bias and conflict of interest in the IUCN report on synthetic biology and gene drive organisms. Online: https://www.etcgroup.org/sites/www.etcgroup.org/files/files/etc-iucn-driving_under_influence.pdf [letzter Zugriff: 07.12.2020]
[5] GeneWatch UK Website (2019). GeneWatch UK. Open letter to the IUCN regarding the report Genetic Frontiers for Conservation. Online: http://www.genewatch.org/uploads/f03c6d66a9b354535738483c1c3d49e4/IUCN_let_16July2019.pdf
[letzter Zugriff: 07.12.2020]
[6] Institute for Nature Conservation in Albania Website (2019). Instituti për Ruajtjen e Natyrës në Shqipëri. Open Letter by the undersigned IUCN Members to the IUCN Council. Online: https://inca-al.org/sq/postimet/njoftime/open-letter-by-the-undersigned-iucn-members-to-the-iucn-council [letzter Zugriff: 23.03.2021]
[7] IUCN Congress 2020 Website (2020). IUCN; c2020. 075 – IUCN Principles on Synthetic Biology and Biodiversity Conservation. Online: https://www.iucncongress2020.org/motion/075 [letzter Zugriff: 07.12.2020]
Termine
Termine
„Stop Gene Drives“ – Informationsstand beim IUCN Weltkongress
Samstag, 04.09. 2021 – Freitag, 10.09.2021 // 10.00 – 22.00 Uhr
Informationsstand „Stop Gene Drives“ in der Ausstellung des IUCN-Weltkongresses, Neutral zone – Stand A 2
Öffentliche Veranstaltung im Rahmen des IUCN-Weltkongresses
Samstag, 04.09. 2021 // 18.30 – 20.30 Uhr
Öffentliche Veranstaltung im Rahmen des IUCN-Weltkongresses:
„Ökosystemtechnik und Artenausrottung durch Gentechnik? Grundlegende Fragen des Naturschutzes.
Nur vor Ort; Halle: H8 – Palais de l’Europe; Raum: H8 – 2 Forêt d’Orient
Pressekonferenz Gentechnisch veränderte Ökosysteme?
Montag, 06.09.2021 // 10.00 – 10.30 Uhr
Vor Ort: Raum: H9 – B 11 Pressekonferenzraum – Callelongue
Pressekonferenz „Gentechnisch veränderte Ökosysteme? – Naturschutz am Wendepunkt“.
Live-Stream für akkreditierte Journalisten und registrierte Teilnehmer über https://www.iucncongress2020.org/
Sprache: Die Sitzung wird auf Englisch abgehalten und gedolmetscht.
Im IUCN-Programm: https://www.iucncongress2020.org/
programme/official-programme/session-52577